Wie Menschen lernen

Cognitive effort isn’t a bug—it’s the feature

Andrew Ellis

19 September, 2025

KI kann uns produktiver machen

  • Wichtige Erkenntnisse aus der Forschung:
    • Dell’Acqua et al. (2023) erforschen die MĂśglichkeiten, mit KI-UnterstĂźtzung kognitive Aufgaben zu verbessern. Fazit: KI kann Produktivität und Qualität steigern, aber auch neue Herausforderungen ergeben.
    • Toner-Rodgers (2025) diskutiert die Implikationen von KI fĂźr die Forschung und betont die Balance zwischen menschlicher und maschineller Intelligenz.
    • Cui et al. (2024) analysieren die Auswirkungen von generativer KI auf Software Engineering und hebt sowohl Chancen als auch Herausforderungen hervor.
  • Erkenntnisse:
    • Automatisierung von routinemässigen kognitiven Aufgaben ist mĂśglich
    • UnterstĂźtzung kreativer Arbeit ist mĂśglich
    • Deskilling: Gefahr, bei ständiger KI-UnterstĂźtzung eigene Fähigkeiten zu verlieren
    • Ohne Training: KI-Tools werden oft fĂźr ungeeignete Aufgaben eingesetzt

Aber halt…

🤔

Sollten Lernende Ăźberhaupt produktiver sein?

Was ist, wenn Anstrengung beim Lernen wichtig ist als das Ergebnis?

Warum existieren Schulen?

Wir unterscheiden zwischen:

Biologisch primärem Wissen:

  • WofĂźr wir evolutionär angepasst sind
  • Lernen geschieht mĂźhelos und automatisch
  • Beispiele: Sprechen lernen, Gesichter erkennen, soziale Interaktion

Biologisch sekundärem Wissen:

  • Kulturelle Errungenschaften ohne evolutionäre Anpassung
  • Erfordert bewusste Anstrengung und Instruktion
  • Beispiele: Lesen, Schreiben, Mathematik, Programmieren

Primäres Wissen kann durch natürliche Entdeckung (discovery) erlernt werden, während akademische Fähigkeiten explizite Anleitung und strukturiertes Üben erfordern.

Experten vs. Anfänger

Experten haben eine neuronale Architektur, die Anfänger erst entwickeln mßssen.

Zwei verschiedene Betriebssysteme

Dimension Anfänger Experten
Sehen • Einzelne Teile • Bedeutungsvolle Muster
Verarbeiten • Schritt-für-Schritt-Denken
• Deliberativ
• Bewusste Anstrengung
• Automatische Prozeduren
• Intuitiv
• Unbewusst
Neural • Schwache Verbindungen
• Bahnen noch im Aufbau
• Myelinisierte neuronale Bahnen
• Tausende Stunden geübt

Cognitive Load Theory

Warum Anfänger anders lernen mßssen als Experten

Arbeitsgedächtnis

  • Begrenzt: Wenige Elemente gleichzeitig
  • FlĂźchtig: Sekunden bis Minuten
  • Bottleneck: Hier findet aktives Lernen statt
  • Problem: Schnell Ăźberlastet bei komplexen Aufgaben

Langzeitgedächtnis

  • Unbegrenzt: Keine bekannte Obergrenze
  • Dauerhaft: Jahre bis lebenslang
  • Organisiert: Schemata und Chunks
  • LĂśsung: Automatisierte Prozesse belasten Arbeitsgedächtnis nicht


Kernprinzip: Lernen = Transfer vom Arbeits- ins Langzeitgedächtnis durch Schemabildung (Wissensstrukturen)

Die drei Arten kognitiver Belastung

Art Definition Beispiel Gestaltbar?
Intrinsisch Komplexität des Lernstoffs selbst Quantenphysik hat höhere intrinsische Last als Addition ❌ Nur durch Sequenzierung
Extrinsisch Wie Material präsentiert wird Text und Grafik getrennt vs. integriert ✅ Durch gutes Design minimierbar
Lernrelevant Mentaler Aufwand für Schemabildung Verbindungen herstellen, Muster erkennen ✅ Sollte maximiert werden


Das Lerndilemma:

  • Gesamtlast darf Arbeitsgedächtnis nicht Ăźberfordern
  • Aber: Lernrelevanter cognitive load ist essentiell fĂźr Expertise-Entwicklung
  • LĂśsung: Extrinsische Last minimieren, um Raum fĂźr lernrelevante Last zu schaffen

CLT-Prinzipien fĂźr effektives Lernen

Prinzip Fßr Anfänger Fßr Fortgeschrittene Implikation
Worked Examples ✅ Reduziert kognitive Last durch Beispiele ❌ Langweilt und hemmt Scaffolding anpassen
Problem Solving ❌ Überfordert das Arbeitsgedächtnis ✅ Fördert Schemabildung Timing ist kritisch
Split-Attention Text + Bild integriert präsentieren Weniger relevant Klare Darstellung wählen


Der Expertise Reversal Effect

Was Experten hilft, kann Anfängern schaden – und umgekehrt. Lernumgebungen müssen sich an das Niveau anpassen.

Praktische Regel: Beginne mit hoher UnterstĂźtzung (Scaffolding) und reduziere sie graduell mit wachsender Expertise.

CLT und KI: Cognitive Offloading

Das Lernparadox: KI optimiert fĂźr Produktion statt Lernen

Kognitive Last Ohne KI Mit KI Konsequenz
Intrinsisch Bleibt konstant Scheint reduziert Komplexität wird versteckt, nicht bewältigt
Extrinsisch Variabel ✅ Minimiert Gut für Effizienz
Lernrelevant Wird aufgebracht ❌ Eliminiert Keine Schemabildung

CLT und KI: Cognitive Offloading

Drei kritische Lernmechanismen werden ausgeschaltet:

Mechanismus Normal Mit KI-Offloading
Vorhersagefehler Lücke zwischen Erwartung & Realität = Lernsignal Keine Erwartungen → kein Lernen
Gedächtniskonsolidierung Aktive Verarbeitung → Speicherung Passive Konsumption → Vergessen
Prozedurale Entwicklung Tausende Wiederholungen → Automatismen Überspringen → keine Expertise

Die CLT-Perspektive: Schwierigkeit ist kein Bug – sie ist das zentrale Feature für Expertise-Entwicklung

Wie Expertise entwickelt wird

Von Fakten zu automatisierten Prozeduren

Gedächtnissystem Beschreibung Eigenschaften Beispiel
Deklaratives Gedächtnis “Wissen dass” • Fakten, Regeln
• Bewusst, langsamer Abruf
“Um \(3x + 5 = 20\) zu lösen, \(5\) von beiden Seiten subtrahieren.”
Prozedurales Gedächtnis “Wissen wie” • Automatisierte Prozesse
• Schnelle, mühelose Ausführung
\(3x + 5 = 20\) sehen → direkt wissen: \(x = 5\)


Der Weg zur Expertise

Deklarative Fakten → Tausende Übungszyklen → Prozedurale Automatismen

Abbildung von Scott H Young

Das Lernparadox: Gefühl ≠ Realität

Situation Wie es sich anfßhlt Was tatsächlich passiert Der Trugschluss
Beim Kämpfen mit einem Problem • Frustration 😣
• “Ich kann das nicht”
• Langsamer Fortschritt
• Unsicherheit
• Neue neuronale Verbindungen entstehen
• Tiefes Verständnis bildet sich
• Langzeitgedächtnis wird aktiviert
• Echtes Lernen 🧠
“Wenn es schwer ist, lerne ich nicht” ❌
Beim Produzieren mit KI-Hilfe • Erfolgsgefühl 😊
• “Ich bin produktiv”
• Schnelle Ergebnisse
• Selbstvertrauen
• Oberflächliche Verarbeitung
• Keine neuen Verbindungen
• Arbeitsgedächtnis nur kurz aktiv
• Illusion des Lernens 🃏
“Wenn ich etwas produziere, lerne ich” ❌

Die gefährliche Umkehrung

Unser Gehirn belĂźgt uns: Was sich wie Lernen anfĂźhlt (mĂźhelose Produktion) ist oft das Gegenteil von Lernen.

Die Wahrheit: Echter Lernfortschritt fĂźhlt sich wie Scheitern an.

Merksatz: “Cognitive effort isn’t a bug—it’s the feature.”

Bibliographie

Cui, Zheyuan (Kevin), Mert Demirer, Sonia Jaffe, Leon Musolff, Sida Peng, and Tobias Salz. 2024. “The Effects of Generative AI on High Skilled Work: Evidence from Three Field Experiments with Software Developers.” SSRN Scholarly Paper. Rochester, NY. September 3, 2024. https://doi.org/10.2139/ssrn.4945566.
Dell’Acqua, Fabrizio, Edward McFowland, Ethan R. Mollick, Hila Lifshitz-Assaf, Katherine Kellogg, Saran Rajendran, Lisa Krayer, François Candelon, and Karim R. Lakhani. 2023. “Navigating the Jagged Technological Frontier: Field Experimental Evidence of the Effects of AI on Knowledge Worker Productivity and Quality.” SSRN Electronic Journal. https://doi.org/10.2139/ssrn.4573321.
Toner-Rodgers, Aidan. 2025. “Artificial Intelligence, Scientific Discovery, and Product Innovation.” May 20, 2025. https://doi.org/10.48550/arXiv.2412.17866.