Der Expertise-Umkehr-Effekt

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Vorwissen bestimmt die optimale Methode

Der Expertise-Umkehr-Effekt zeigt: Dieselbe Instruktionsmethode kann gegenteilige Effekte haben, abhängig vom Vorwissen der Lernenden.

  • Bei niedrigem Vorwissen: Hohe Unterstützung hilft (Worked Examples, direkte Instruktion)
  • Bei hohem Vorwissen: Hohe Unterstützung kann schaden (problembasiertes Lernen wird effektiver)

Die Schwelle, ab der KI von schädlich zu hilfreich wechselt, ist unbekannt und variiert nach Domäne und Person.

Anwendungsfragen

Gesundheit: Heterogene Vorkenntnisse im Kurs

Das Konzept ist klar, aber wie setzt man es konkret um? In Kursen zur Patientenbeurteilung gibt es oft Studierende mit sehr unterschiedlichen Vorkenntnissen: Einige kommen direkt von der Matur, andere haben bereits eine FaGe-Ausbildung oder Jahre Praxiserfahrung als Pflegeassistenz.

Frage: Wenn die Empfehlung lautet, “nutzt ChatGPT zur Vorbereitung auf die OSCE-Prüfung”, könnte das den Anfängern helfen, aber den Erfahrenen schaden? Wie findet man heraus, wo bei den Studierenden diese Schwelle liegt? Sollten verschiedene Aufgabenstellungen für verschiedene Levels gemacht werden, oder sollte der KI-Einsatz einfach ganz verboten werden, bis alle ein Grundniveau erreicht haben?

Differenzierung ist der Schlüssel. Verschiedene Aufgaben für verschiedene Niveaus können sinnvoll sein. Eine Möglichkeit: Selbsteinschätzung kombiniert mit diagnostischen Aufgaben, um das Vorwissen zu erfassen. Dann gestufte KI-Nutzung. Mehr dazu im Leitfaden unter Der Expertise-Umkehr-Effekt und Unterstützung anpassen.

Technik und Informatik: KI-Nutzung nach Expertise differenzieren

In der Informatik ist die Situation noch komplizierter. Studierende im Web-Development-Kurs kennen teilweise GitHub Copilot sehr gut. Die Frage ist nicht mehr, ob sie KI nutzen, sondern wie.

Frage: Wenn hohe Unterstützung bei Experten schaden kann: Heisst das, dass fortgeschrittenen Studierenden abgeraten werden sollte, Copilot zu nutzen? Das scheint realitätsfern, denn in der Industrie arbeitet heute jeder damit. Oder geht es darum, dass sie Copilot anders nutzen sollten als Anfänger? Wie kann das in Übungsaufgaben berücksichtigt werden, wenn die “Schwelle” bei jedem anders liegt und sich während des Semesters verschiebt?

Der Expertise-Umkehr-Effekt bezieht sich auf Instruktion, nicht auf Werkzeugnutzung per se. Fortgeschrittene können KI produktiv nutzen, weil sie den Output bewerten können. Die Frage ist: Nutzen sie KI als Abkürzung (problematisch) oder als Effizienzwerkzeug bei bereits verstandenen Konzepten (ok)? Mehr dazu im Leitfaden unter Kognition erweitern vs. ersetzen.

Wirtschaft: Fallstudien und direkte Instruktion

Das wirft eine grundsätzliche didaktische Frage auf: In Einführungskursen Marketing wird viel mit Fallstudien gearbeitet. Die Annahme ist oft, dass selbstständiges Problemlösen die beste Methode ist, “Learning by doing”.

Frage: Könnte das für Erstsemester-Studierende, die noch keine Marketingkonzepte kennen, zu wenig Struktur sein? Müsste am Anfang mehr direkte Instruktion gegeben werden, bevor es an die Fälle geht? Und wenn Studierende dann KI-Tools wie ChatGPT nutzen, um ihre Fallanalysen zu schreiben: Ist das dann quasi eine Form von Unterstützung, die Anfänger brauchen, oder verhindert es genau den Lerneffekt?

Für Novizen ist direkte Instruktion mit Worked Examples tatsächlich oft effektiver als problembasiertes Lernen. KI-Nutzung ist aber nicht dasselbe wie gute Instruktion: KI gibt Antworten, aber nicht didaktisch strukturierte Erklärungen. Die Sequenz wäre: Erst Grundlagen vermitteln (direkte Instruktion), dann angeleitete Übung, dann selbstständige Anwendung, dann KI als Werkzeug. Mehr dazu im Leitfaden unter Explizite Instruktion und Worked Examples.

Künste: Grundlagen vor generativen Tools

In der künstlerischen Ausbildung ist die Situation speziell: Kreativität entsteht oft gerade durch Einschränkungen und durch das Ringen mit dem Material.

Frage: Wenn Studierende ihre Gehörbildungsübungen oder Harmonielehre-Aufgaben mit KI-Tools lösen, einige können schon ganz gut harmonisieren, andere kämpfen noch mit Grundlagen, wo liegt da die Grenze? Bei den Fortgeschrittenen könnte KI als “Sparringpartner” funktionieren, um verschiedene Varianten durchzuspielen. Aber schadet es den Anfängern nicht fundamental, wenn sie die KI Lösungen generieren lassen, bevor sie überhaupt ein intuitives Gefühl für Stimmführung entwickelt haben? Wie unterscheidet man zwischen “hilfreicher Unterstützung” und “verhindert den grundlegenden Lernprozess”?

In künstlerischen Fächern ist das “Ringen mit dem Material” besonders wichtig. Die intuitive Kompetenz entwickelt sich durch Übung, nicht durch Betrachtung von KI-Output. Für Anfänger ist KI-Nutzung hier wahrscheinlich kontraproduktiv. Für Fortgeschrittene kann KI als Experimentierfeld dienen. Die Schwelle liegt dort, wo die Grundlagen internalisiert sind. Mehr dazu im Leitfaden unter Der Expertise-Umkehr-Effekt und Prozeduralisierung.

HinweisVertiefte Informationen
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