Das Produktivitäts-Lern-Paradox

← Zurück zur Übersicht

Das zentrale Ergebnis

In der Präsentation wurde eine Studie vorgestellt, bei der rund 1000 Gymnasiasten GPT-4-Zugang während Mathematik-Übungen erhielten. Das Ergebnis:

  • Mit KI-Zugang: 48% mehr Aufgaben korrekt gelöst
  • Ohne KI (später): 17% schlechter als die Kontrollgruppe

Dies illustriert das Produktivitäts-Lern-Paradox: Mehr Aufgaben gelöst bedeutet nicht automatisch mehr gelernt.

Anwendungsfragen

Gesundheit: Klinisches Reasoning und Pflegediagnostik

Im Unterricht von klinischem Reasoning und Pflegediagnostik im 2. Studienjahr müssen Studierende lernen, Patientensituationen zu analysieren und eigenständig Pflegediagnosen zu stellen. Dabei wird festgestellt, dass einige ChatGPT nutzen, um Fallbeispiele zu lösen.

Frage: Wenn Studierende mit KI-Unterstützung mehr Fallbeispiele korrekt lösen, aber dann in der Praxis ohne KI schlechter abschneiden: Wie erkennt man das rechtzeitig? Beim OSCE haben sie ja kein Handy dabei, aber bis dahin haben sie schon Monate mit KI geübt. Kann man überhaupt noch davon ausgehen, dass die Selbstlernphasen mit Fallbeispielen einen Lerneffekt haben, wenn viele heimlich ChatGPT verwenden?

Das Problem liegt in der Unterscheidung zwischen Aufgabenleistung und Lernen. Regelmässige formative Assessments ohne KI-Zugang können helfen, den tatsächlichen Lernstand zu erfassen. Mehr dazu im Leitfaden unter Das Produktivitäts-Lern-Paradox und Lernsituationen gestalten.

Technik und Informatik: Code-Assistenten und Grundlagen

In Modulen zur objektorientierten Programmierung und Softwarearchitektur sollen Studierende eigenständig kleinere Projekte entwickeln und dabei Design Patterns anwenden lernen.

Frage: Die Situation ist paradox: Einerseits sollen Studierende GitHub Copilot und ähnliche Tools kennenlernen, weil das zum Berufsalltag gehört. Andererseits zeigt diese Studie ja, dass sie dann die Grundlagen nicht mehr lernen. Wie findet man die richtige Balance? Soll in den ersten Semestern ein komplettes AI-Verbot durchgesetzt und erst ab dem 5. Semester Code-Assistenten erlaubt werden?

Die Sequenzierung ist entscheidend: Grundlagen vor Werkzeugen. Der Expertise-Umkehr-Effekt zeigt, dass dieselbe Unterstützung für Novizen schädlich und für Fortgeschrittene hilfreich sein kann. Mehr dazu im Leitfaden unter Die Sequenzierungsfrage und Der Expertise-Umkehr-Effekt.

Wirtschaft: Konzeptverständnis vs. Formelanwendung

Im Finanzmanagement und Corporate Finance im Bachelor müssen Studierende Investitionsrechnungen durchführen, Cash-Flow-Analysen erstellen und Unternehmensbewertungen vornehmen können.

Frage: Das Problem zeigt sich direkt bei Excel-basierten Assignments. Wenn Studierende ChatGPT fragen “Erstelle mir eine Formel für den Net Present Value mit diesen Parametern”, bekommen sie sofort die Lösung. Sie reichen dann perfekte Spreadsheets ein, aber in der schriftlichen Prüfung können sie nicht mal erklären, warum man den Diskontierungssatz überhaupt braucht. Wie gestaltet man Übungsaufgaben, bei denen sie wirklich das Konzept verstehen müssen?

Der Generierungseffekt zeigt: Selbst erarbeitetes Wissen wird besser behalten. Aufgaben sollten den Prozess bewerten, nicht nur das Produkt. Zwischenschritte einfordern und begründen lassen. Mehr dazu im Leitfaden unter Der Generierungseffekt und Prozess bewerten, nicht nur Produkt.

Soziale Arbeit: Reflexionsfähigkeit und Beziehungsarbeit

Im Unterricht von Gesprächsführung und Case Management lernen Studierende, mit Klientinnen und Klienten professionelle Beratungsgespräche zu führen und individuelle Unterstützungspläne zu entwickeln.

Frage: In der Sozialen Arbeit wird viel mit Rollenspielen und schriftlichen Fallanalysen gearbeitet. Es zeigt sich, dass Studierende ihre Gesprächsvorbereitungen und Analysen von ChatGPT schreiben lassen. Die Texte klingen plausibel, aber in der praktischen Umsetzung fehlt komplett das Verständnis für Gesprächsdynamiken. Das Paradox ist besonders kritisch: In diesem Berufsfeld geht es um Beziehungsarbeit und situatives Handeln. Wie bereitet man sie dann auf echte Krisensituationen vor, wo keine KI hilft?

Lernen erfordert die kognitive Anstrengung, die KI zu eliminieren droht. Praktische Übungen ohne KI-Unterstützung sind hier besonders wichtig. Die Reflexionsfähigkeit entsteht durch den mühsamen Prozess des Formulierens. Mehr dazu im Leitfaden unter Desirable Difficulties und Kognition erweitern vs. ersetzen.

HinweisVertiefte Informationen
Zurück nach oben